Brief aus der Ukraine 2025 von Wolfgang Krautmacher, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Lieberose und Land

Brief aus der Ukraine 2025 von Wolfgang Krautmacher, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Lieberose und Land

Brief aus der Ukraine 2025 von Wolfgang Krautmacher, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Lieberose und Land

# Ukraine

Brief aus der Ukraine 2025 von Wolfgang Krautmacher, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Lieberose und Land

Liebe Schwestern und Brüder in JEsus CHristus, 
liebe interessierte Mitleser,

während ich diese Zeilen schreibe, bin ich längst wieder zu Hause, in Deutschland, im Landkreis Oder-Spree.

Nach einem Aufenthalt von über drei Wochen im vergangenen Jahr war ich Ende Februar/Anfang März diesen Jahres erneut in der Ukraine gewesen, auch im Auftrag des Evangelischen Kirchenkreises Oder­land-Spree. Vor allem anderen bringe ich Grüße von lieben Menschen mit, von Schwestern und Brüdern, die unseren christ­lichen Glauben teilen. Das ist in unserem Kirchenkreis nichts Neues, wenn ich beispielsweise an die Partnerschaften mit der Presbyteria­nisch-reformierten Kirche in Kuba (Camajuani), mit der Mamlaka Hill Chapel in Kenia (Nairobi) oder an die eine oder andere Partner­schaft der Kirchengemeinden denke. Auch ist nicht neu, dass es einen gehörigen Aufwand bedeuten kann, diese Partnerschaften zu pflegen: eingeschlossen ein gewisses Risiko der persönlichen Si­cherheit.

Danach werde ich oft gefragt: ob ich denn keine Angst hätte, die Ukraine derzeit zu bereisen?

Natürlich habe ich Angst, aber ich habe gerade an diesen zwei Reisen ge­lernt, dass Angst et­was sehr Subjek­ti­ves sein kann. Objektiv wäre die Frage berechtigt, ob es im Jahr 2025 gefährlicher ist, mit einem alten Auto bis nach Kyjiv zu fahren oder sich in ein Flugzeug zu begeben, um mehrere tausend Kilometer über den Atlantik zurückzulegen. Bisweilen spielt dir die Angst auch merkwürdige Streiche: Entgegen der tatsächlichen Ge­fah­renlage hat mir die lange Fahrt durch Polen und die Übernachtung im eigenen Wagen mehr Kopfzerbrechen bereitet als der Aufenthalt im Land. Anders als letztes Jahr habe ich jede Nacht in der Ukraine gut geschlafen.

Aber die Bedro­hung ist ge­wach­sen. Auch in Zhytomyr im Westen der Ukraine muss man sich an das moped­glei­che Zweitaktgeheul der Shahed-Dronen ge­wöh­nen, die nachts über die Stadt fliegen, gefolgt von ukrainischer Luft­abwehr. Das war letztes Jahr noch anders. Schein­bar friedlicher.


Der Zy­nis­mus in der Kriegs­füh­rung seitens der Rus­sen ist freilich ungebro­chen: Kaum dass die Presse ver­kün­dete, Prä­sident Putin ha­be sich mit Prä­si­dent Trump, auf der Grundlage einer echten Män­ner­freund­schaft, auf einen 30-tägigen Verzicht auf die Bombardierung der Energie-Anlagen ge­ei­nigt, sprang an meinem Mobiltelefon der Luftalarm für die ukrainische Hauptstadt an. Diese Alarm-Applikation habe ich aus Solidarität seit der Reise im letzten Jahr nicht mehr ausgeschaltet, sondern nutze sie ab und zu als Einladung zur Fürbitte, in Form von kurzen Stoßgebeten. In der von Russland beanspruchten Oblast Zaporizhzhja, wo ich nur letztes Jahr gewesen bin, geht der Alarm bisweilen mehrmals am Tage los; es kostet Menschenleben oder deren Gesundheit. Zynisch: Wer die Energie-Infrastruktur unbehelligt lässt, hat mehr Bomben und Raketen übrig, um die Bevölkerung der Ukraine weiter zu terrorisieren.

Wie man unter diesen Umstän­den immer noch zögern kann, die Ukraine mit Waffen zu ver­sor­gen, damit sie sich verteidigen kann, geht mir nicht in den Kopf. Ich habe dem Friedensbeauf­trag­ten der EKD nach seinem denk­würdigen Auftritt bei den Christ­lichen Begegnungstagen in Frankfurt/Oder einen aus­führ­lichen Brief dazu geschrieben: Eine Antwort hat mich bis heute nicht erreicht.

Stichwort ‚Christliche Be­gegnungstage‘: Dort hatte ich beschlossen, auf meine erste Reise eine zweite folgen zu lassen. Denn Bischof Pavlo von der Deut­schen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine (DELKU) hatte beim Schluss­got­tesdienst gesagt, eine gro­ße Hilfe seien schlicht: Besuche. Das hatte ich mir gemerkt.

Und auch noch eine zweite Antwort auf die Frage, was denn der Ukra­ine beziehungsweise den bedrohten Menschen in diesem Land helfe, ist mir nicht aus dem Gedächtnis gekommen – gelesen in einer Tageszei­tung: Ein ukrainischer Schriftsteller sagte – von einer Deutschen gefragt, wie man denn helfen könne („Aber sagen Sie jetzt bitte nicht wieder: mit Waffen“!) - den bedenkenswerten Satz, sinngemäß: „Ihr Deutschen könnt uns Ukrainern in der jetzigen Situation helfen, indem ihr euch mal mit eurer eigenen Angst auseinandersetzt, die ihr vielleicht nicht verspürt, die ihr aber haben müsstet.“ CHristus hatte ja gesagt (Johannes 16,33b): „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Also: Es wäre doch sehr verwun­der­lich, wenn ausgerechnet wir Deutschen in 2025 diese ‚Angst in der Welt‘ nicht haben müssten.

Wobei dann auch klar ist: So subjektiv, wie die Angst nun einmal ist, wird sie unter unsereins weiterhin zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen in der Friedensfrage führen. Das lässt sich aushalten, solange wir dabei auch bereit sind, über unsere Ängste ins Gespräch zu kommen, anstatt uns gegenseitig zu belehren – womöglich mit Überzeugungen, die der veränderten Lage längst nicht mehr gerecht werden. Als Christen jedenfalls können wir uns den Austausch über unsere Ängste leisten. Vor allem aber können wir uns leisten, unsere Überzeugungen immer wieder zu revidieren, denn sie sind nicht die Heilige Schrift, sondern haben sich an ihr zu messen; „ecclesia semper reformanda est“, man kann ja mal bei sich selbst damit anfangen. In der Politik gibt es dafür teilweise beeindruckende (ja, fast schon beschämende) Beispiele.

Über die letzte Reise habe ich damit noch fast gar nichts gesagt. Ich könnte über vier Gottes­dienste berichten, an denen ich teilgenommen habe: drei lutherische (einen davon in Kyjiv unter der Leitung der lu­therischen Bischöfe aus der Ukraine und aus Polen) ...

 


... und einen griechisch-katholischen in unmit­tel­barer Nachbarschaft zu Pastor Viktors Woh­nung. In Zhytomyr und Vinnytsja habe ich je­weils ein geistliches Wort gesprochen und unsere Grüße ausge­richtet. Ich könnte Wor­te verlieren über die Fahr­ten, über die meis­tens schon bekannten Menschen, die ich wieder getroffen habe, über den menschlich und theologisch so wertvollen Austausch mit meinem Mitbruder Viktor, dem Pastor von Zhytomyr und Vinnytsja; schließlich darüber, dass meine Reise wirklich nur symbolische Bedeutung hatte, der sprichwörtliche „Tropfen auf den heißen Stein“ – einmal abgesehen davon, dass ich im Auftrag der Johanniter-Hilfsgemeinschaft östliches Brandenburg erfolgreich Kontakte knüpfen konnte, um gesammelte Spenden sinnvoll einsetzen zu können.

Trauriger Höhepunkt war der Morgen des 1. März. Durch die Zeitver­schiebung von mehreren Stunden erreichte uns die Nach­richt über die beispiellose Szene im Oval Office des Weißen Hauses erst am nächs­ten Tag. Für die Ukrainer war das ein Schock: zu sehen, wie der Präsi­dent der Vereinigten Staaten von Amerika den Präsidenten des eigenen Lands vor lau­fen­den Kameras gedemütigt hat, unter Auf­gabe des letzten Restes an Ehre, die man unter Menschen einander schuldig wäre. Während es sich hierzulande einige Leute leisten, mit dem Hinweis auf die langjährige Unterstützung Amerikas zu rechtfertigen, dass sich Russland bedroht sehen müsse und ein gewisses Recht dann doch habe, sich gegen Amerika zu verteidigen (zum Beispiel, indem man eine Kinderklinik in Kyjiv beschießt...), wur­de den Ukrainern schnell klar: Wir haben gerade einen Freund, einen Verbündeten – ja, vielleicht sogar den einzigen Verbündeten, den wir in dieser Welt hatten – verloren. Weil es in diesen Tagen schien, Amerika hätte die Seite gewechselt, nachdem sich die Präsidenten als Brüder im Geiste erkannt hatten.

„Es ist ein Geschenk des Himmels, dass du gerade jetzt bei uns bist“, hatte einer meiner Gastgeber zu mir gesagt.

Angesichts der Realität des Krieges und der Tat­sache, dass die Ukra­ine de facto keine Ver­bün­de­ten hat, ist die Angst längst nicht nur etwas Subjektives, sondern auch selbst ausgespro­chen real. Denn du musst dich in diesem Land, bei nach­lassender Luftabwehr umso mehr, fragen: Wann trifft es mich? Ich konnte mir nach einem Jahr in jeder größeren Stadt die Gesichter der Soldaten und auch eini­ger weniger Soldatinnen ansehen, die vom 15. Fe­bru­ar bis zum 5. März 2024 ihr Leben dafür ge­las­sen haben, dass sich unter anderem ein evan­ge­lischer Pastor aus Lie­berose ohne größere Ge­fahr als gern gesehener Gast im Land feiern las­sen konnte ...

Und du erlebst als Chris­tenmensch, was du theoretisch ja weißt: dass es der christ­lichen Gemeinde „in der noch nicht er­lösten Welt, in der auch die Kirche steht“ (Barmen V), diesbezüglich nicht besser geht. Die nächste Rakete kann einen Spielplatz oder eine Kirche treffen.

Wie denkt die christliche Gemeinde? Im Land oder außer Lan­des, das kann auch für Ukrainer den Unter­schied ausmachen. Ab und zu besuche ich den in ukrainischer Sprache gefeierten Gottesdienst von Adventisten hier in Deutschland. Mittler­weile kennt man mich dort. Der Prediger kam nach meiner Reise mit mir ins Gespräch: Herrn Trump die Schürfrechte für Bodenschätze zu überlassen, damit er im Gegenzug die Verteidigung der Ukraine wieder ermögliche, könne der Weisheit entsprechen, mit der König Salomo die Mutterschaft klärte, die zwei Huren jeweils für sich beanspruchten (I Könige 3,16‑28): Wem es wirklich um das Leben der Menschen ginge, sei zu Opfern bereit. In Deutschland hörte sich das schlüssig an, auch unter Ukrainern. Aber im Land selbst schüttelt man nur den Kopf und unterstützt (parteiübergreifend) Präsi­dent Selenskyj dabei, hier nicht zu schnell das Tafelsilber herzugeben – warum? Weil du erst dann, wenn die Bedrohung real ist, begreifst, wem du vertrauen kannst. Und wem nicht, beziehungsweise wem nicht mehr.

Das berührt auch einen empfindlichen Punkt der innerchristlichen Ökumene: Vor einem Jahr hat der Kirchenkreis auf meinen Vorschlag hin einen Brief von Pastor Viktor veröffentlicht, in dem dieser sich wohlmeinende Aufforderungen aus Deutsch­land verbittet, weiterhin die Versöhnung mit evangelischen Christen in Russland zu suchen – die doch das Äquivalent der Bekennenden Kirche in Deutschland seien. Re­aktionen, die mich erreicht haben, fielen sehr unterschiedlich aus – bis hin zu dem Vorwurf, dieser Brief beziehungsweise seine Veröffentlichung sei „Kriegstreiberei“!

Mittlerweile ist die Ent­fremdung zu russischen Christen größer gewor­den, auch institutionell. Aus der Union Evan­gelisch-Lutherischer Kirchen (UELK), dem Zusammenschluss der lutherischen Gemein­den auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjet­union (bis 2015: ELKRAS), ist die Lutherische Kirche der Ukraine mittlerweile ausgetreten, wie sie es im Januar diesen Jahres bekannt gegeben hat. Der Beschluss wurde von der Synode in Odesa am 22. November 2024 gefasst. Das ist keine Verkapse­lung, denn 2022 wurde die DELKU Einzelmitglied im Lutherischen Weltbund (LWB), 2023 in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Neben anderen Gründen macht die DELKU für ihren Schritt geltend, dass der Bischofsrat der UELK eine „klare Position der Aggression gegen die Ukraine“ bis heute vermissen ließ.

Dietrich Bonhoeffer (Werk und Leben sind für unsere ukrainischen Geschwister von ho­hem Interesse) wurde für den Widerstand un­ter anderem deshalb gewonnen, weil er als Kirchenmann Kontakte in die weltweite Öku­mene hatte und dorthin wichtige Signale des Widerstands senden konnte. Von vergleichbaren Signalen evangelischer Kir­chen­gemeinden oder Amtsträger aus Russ­land ist auch meinem Kollegen derzeit nichts bekannt. Das liegt auf derselben, schmerz­haf­ten Linie wie die Risse in zahllosen Familien (oder auch unter Christen): deren russische Hälfte das Leiden ihrer ukrainischen Verwandten schlicht leugnet, stattdessen der (auch bei uns verbreiteten) russischen Propaganda folgt und angesichts der Opfer, die der Krieg von der rus­sischen Bevölkerung verlangt, in eine duldsame Lethargie verfällt. Das einzig Hoffnungsvolle ist dies: Das muss, wie alles in der Welt, nicht so bleiben.

Ich halte deshalb auch den (allerdings sehr losen) Kontakt zu einer russischen Theologin in Moskau, die in Eisenhüttenstadt zur Welt gekommen ist und sich mit Bonhoeffer sowie dem Kirchenkampf beschäftigt – über das Schicksal des 1951 in Moskau ermordeten Pfarrers von Fürstenberg/Oder, Reinhard Gnettner, ist der Kontakt vor wenigen Jahren zustande gekommen. Der Ukraine-Krieg ist kein Thema und wird von mir auch nicht zum Thema gemacht. Der Austausch ‚kocht auf sehr kleiner Flamme’, ‚standby’ gewissermaßen. Aber vielleicht sind es solche Kontakte, die eines Tages noch von großer Bedeutung sein werden. Wir wissen es nicht.

Jetzt aber müssen wir mit dem Schweigen der einen und mit der Not und der Enttäuschung der anderen Glaubensgeschwister umgehen. Das rechtfertigt meines Erachtens auch den Schmerz von Partei­lich­keit unter Glaubensgeschwistern – solange diese Partei­lichkeit nicht zu einem Dogma wird, sondern sich täglich neu messen lässt, an GOttes Wort und (leider auch, aber wenigstens in dieser Rei­henfolge!) an der Realität.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Pfarrer Wolfgang Krautmacher, Evangelische Kirchengemeinde Lieberose und Land Lieberose(DE)/Zhytomyr(UA), März/April 2025

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