13/04/2025 0 Kommentare
Brief aus der Ukraine 2025 von Wolfgang Krautmacher, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Lieberose und Land
Brief aus der Ukraine 2025 von Wolfgang Krautmacher, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Lieberose und Land
# Ukraine

Brief aus der Ukraine 2025 von Wolfgang Krautmacher, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Lieberose und Land

Liebe Schwestern und Brüder in JEsus CHristus,
liebe interessierte Mitleser,
während ich diese Zeilen schreibe, bin ich längst wieder zu Hause, in Deutschland, im Landkreis Oder-Spree.
Nach einem Aufenthalt von über drei Wochen im vergangenen Jahr war ich Ende Februar/Anfang März diesen Jahres erneut in der Ukraine gewesen, auch im Auftrag des Evangelischen Kirchenkreises Oderland-Spree. Vor allem anderen bringe ich Grüße von lieben Menschen mit, von Schwestern und Brüdern, die unseren christlichen Glauben teilen. Das ist in unserem Kirchenkreis nichts Neues, wenn ich beispielsweise an die Partnerschaften mit der Presbyterianisch-reformierten Kirche in Kuba (Camajuani), mit der Mamlaka Hill Chapel in Kenia (Nairobi) oder an die eine oder andere Partnerschaft der Kirchengemeinden denke. Auch ist nicht neu, dass es einen gehörigen Aufwand bedeuten kann, diese Partnerschaften zu pflegen: eingeschlossen ein gewisses Risiko der persönlichen Sicherheit.
Danach werde ich oft gefragt: ob ich denn keine Angst hätte, die Ukraine derzeit zu bereisen?

Natürlich habe ich Angst, aber ich habe gerade an diesen zwei Reisen gelernt, dass Angst etwas sehr Subjektives sein kann. Objektiv wäre die Frage berechtigt, ob es im Jahr 2025 gefährlicher ist, mit einem alten Auto bis nach Kyjiv zu fahren oder sich in ein Flugzeug zu begeben, um mehrere tausend Kilometer über den Atlantik zurückzulegen. Bisweilen spielt dir die Angst auch merkwürdige Streiche: Entgegen der tatsächlichen Gefahrenlage hat mir die lange Fahrt durch Polen und die Übernachtung im eigenen Wagen mehr Kopfzerbrechen bereitet als der Aufenthalt im Land. Anders als letztes Jahr habe ich jede Nacht in der Ukraine gut geschlafen.

Aber die Bedrohung ist gewachsen. Auch in Zhytomyr im Westen der Ukraine muss man sich an das mopedgleiche Zweitaktgeheul der Shahed-Dronen gewöhnen, die nachts über die Stadt fliegen, gefolgt von ukrainischer Luftabwehr. Das war letztes Jahr noch anders. Scheinbar friedlicher.

Der Zynismus in der Kriegsführung seitens der Russen ist freilich ungebrochen: Kaum dass die Presse verkündete, Präsident Putin habe sich mit Präsident Trump, auf der Grundlage einer echten Männerfreundschaft, auf einen 30-tägigen Verzicht auf die Bombardierung der Energie-Anlagen geeinigt, sprang an meinem Mobiltelefon der Luftalarm für die ukrainische Hauptstadt an. Diese Alarm-Applikation habe ich aus Solidarität seit der Reise im letzten Jahr nicht mehr ausgeschaltet, sondern nutze sie ab und zu als Einladung zur Fürbitte, in Form von kurzen Stoßgebeten. In der von Russland beanspruchten Oblast Zaporizhzhja, wo ich nur letztes Jahr gewesen bin, geht der Alarm bisweilen mehrmals am Tage los; es kostet Menschenleben oder deren Gesundheit. Zynisch: Wer die Energie-Infrastruktur unbehelligt lässt, hat mehr Bomben und Raketen übrig, um die Bevölkerung der Ukraine weiter zu terrorisieren.

Wie man unter diesen Umständen immer noch zögern kann, die Ukraine mit Waffen zu versorgen, damit sie sich verteidigen kann, geht mir nicht in den Kopf. Ich habe dem Friedensbeauftragten der EKD nach seinem denkwürdigen Auftritt bei den Christlichen Begegnungstagen in Frankfurt/Oder einen ausführlichen Brief dazu geschrieben: Eine Antwort hat mich bis heute nicht erreicht.

Stichwort ‚Christliche Begegnungstage‘: Dort hatte ich beschlossen, auf meine erste Reise eine zweite folgen zu lassen. Denn Bischof Pavlo von der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine (DELKU) hatte beim Schlussgottesdienst gesagt, eine große Hilfe seien schlicht: Besuche. Das hatte ich mir gemerkt.
Und auch noch eine zweite Antwort auf die Frage, was denn der Ukraine beziehungsweise den bedrohten Menschen in diesem Land helfe, ist mir nicht aus dem Gedächtnis gekommen – gelesen in einer Tageszeitung: Ein ukrainischer Schriftsteller sagte – von einer Deutschen gefragt, wie man denn helfen könne („Aber sagen Sie jetzt bitte nicht wieder: mit Waffen“!) - den bedenkenswerten Satz, sinngemäß: „Ihr Deutschen könnt uns Ukrainern in der jetzigen Situation helfen, indem ihr euch mal mit eurer eigenen Angst auseinandersetzt, die ihr vielleicht nicht verspürt, die ihr aber haben müsstet.“ CHristus hatte ja gesagt (Johannes 16,33b): „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Also: Es wäre doch sehr verwunderlich, wenn ausgerechnet wir Deutschen in 2025 diese ‚Angst in der Welt‘ nicht haben müssten.
Wobei dann auch klar ist: So subjektiv, wie die Angst nun einmal ist, wird sie unter unsereins weiterhin zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen in der Friedensfrage führen. Das lässt sich aushalten, solange wir dabei auch bereit sind, über unsere Ängste ins Gespräch zu kommen, anstatt uns gegenseitig zu belehren – womöglich mit Überzeugungen, die der veränderten Lage längst nicht mehr gerecht werden. Als Christen jedenfalls können wir uns den Austausch über unsere Ängste leisten. Vor allem aber können wir uns leisten, unsere Überzeugungen immer wieder zu revidieren, denn sie sind nicht die Heilige Schrift, sondern haben sich an ihr zu messen; „ecclesia semper reformanda est“, man kann ja mal bei sich selbst damit anfangen. In der Politik gibt es dafür teilweise beeindruckende (ja, fast schon beschämende) Beispiele.



Über die letzte Reise habe ich damit noch fast gar nichts gesagt. Ich könnte über vier Gottesdienste berichten, an denen ich teilgenommen habe: drei lutherische (einen davon in Kyjiv unter der Leitung der lutherischen Bischöfe aus der Ukraine und aus Polen) ...

... und einen griechisch-katholischen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Pastor Viktors Wohnung. In Zhytomyr und Vinnytsja habe ich jeweils ein geistliches Wort gesprochen und unsere Grüße ausgerichtet. Ich könnte Worte verlieren über die Fahrten, über die meistens schon bekannten Menschen, die ich wieder getroffen habe, über den menschlich und theologisch so wertvollen Austausch mit meinem Mitbruder Viktor, dem Pastor von Zhytomyr und Vinnytsja; schließlich darüber, dass meine Reise wirklich nur symbolische Bedeutung hatte, der sprichwörtliche „Tropfen auf den heißen Stein“ – einmal abgesehen davon, dass ich im Auftrag der Johanniter-Hilfsgemeinschaft östliches Brandenburg erfolgreich Kontakte knüpfen konnte, um gesammelte Spenden sinnvoll einsetzen zu können.

Trauriger Höhepunkt war der Morgen des 1. März. Durch die Zeitverschiebung von mehreren Stunden erreichte uns die Nachricht über die beispiellose Szene im Oval Office des Weißen Hauses erst am nächsten Tag. Für die Ukrainer war das ein Schock: zu sehen, wie der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika den Präsidenten des eigenen Lands vor laufenden Kameras gedemütigt hat, unter Aufgabe des letzten Restes an Ehre, die man unter Menschen einander schuldig wäre. Während es sich hierzulande einige Leute leisten, mit dem Hinweis auf die langjährige Unterstützung Amerikas zu rechtfertigen, dass sich Russland bedroht sehen müsse und ein gewisses Recht dann doch habe, sich gegen Amerika zu verteidigen (zum Beispiel, indem man eine Kinderklinik in Kyjiv beschießt...), wurde den Ukrainern schnell klar: Wir haben gerade einen Freund, einen Verbündeten – ja, vielleicht sogar den einzigen Verbündeten, den wir in dieser Welt hatten – verloren. Weil es in diesen Tagen schien, Amerika hätte die Seite gewechselt, nachdem sich die Präsidenten als Brüder im Geiste erkannt hatten.
„Es ist ein Geschenk des Himmels, dass du gerade jetzt bei uns bist“, hatte einer meiner Gastgeber zu mir gesagt.

Angesichts der Realität des Krieges und der Tatsache, dass die Ukraine de facto keine Verbündeten hat, ist die Angst längst nicht nur etwas Subjektives, sondern auch selbst ausgesprochen real. Denn du musst dich in diesem Land, bei nachlassender Luftabwehr umso mehr, fragen: Wann trifft es mich? Ich konnte mir nach einem Jahr in jeder größeren Stadt die Gesichter der Soldaten und auch einiger weniger Soldatinnen ansehen, die vom 15. Februar bis zum 5. März 2024 ihr Leben dafür gelassen haben, dass sich unter anderem ein evangelischer Pastor aus Lieberose ohne größere Gefahr als gern gesehener Gast im Land feiern lassen konnte ...


Und du erlebst als Christenmensch, was du theoretisch ja weißt: dass es der christlichen Gemeinde „in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht“ (Barmen V), diesbezüglich nicht besser geht. Die nächste Rakete kann einen Spielplatz oder eine Kirche treffen.

Wie denkt die christliche Gemeinde? Im Land oder außer Landes, das kann auch für Ukrainer den Unterschied ausmachen. Ab und zu besuche ich den in ukrainischer Sprache gefeierten Gottesdienst von Adventisten hier in Deutschland. Mittlerweile kennt man mich dort. Der Prediger kam nach meiner Reise mit mir ins Gespräch: Herrn Trump die Schürfrechte für Bodenschätze zu überlassen, damit er im Gegenzug die Verteidigung der Ukraine wieder ermögliche, könne der Weisheit entsprechen, mit der König Salomo die Mutterschaft klärte, die zwei Huren jeweils für sich beanspruchten (I Könige 3,16‑28): Wem es wirklich um das Leben der Menschen ginge, sei zu Opfern bereit. In Deutschland hörte sich das schlüssig an, auch unter Ukrainern. Aber im Land selbst schüttelt man nur den Kopf und unterstützt (parteiübergreifend) Präsident Selenskyj dabei, hier nicht zu schnell das Tafelsilber herzugeben – warum? Weil du erst dann, wenn die Bedrohung real ist, begreifst, wem du vertrauen kannst. Und wem nicht, beziehungsweise wem nicht mehr.
Das berührt auch einen empfindlichen Punkt der innerchristlichen Ökumene: Vor einem Jahr hat der Kirchenkreis auf meinen Vorschlag hin einen Brief von Pastor Viktor veröffentlicht, in dem dieser sich wohlmeinende Aufforderungen aus Deutschland verbittet, weiterhin die Versöhnung mit evangelischen Christen in Russland zu suchen – die doch das Äquivalent der Bekennenden Kirche in Deutschland seien. Reaktionen, die mich erreicht haben, fielen sehr unterschiedlich aus – bis hin zu dem Vorwurf, dieser Brief beziehungsweise seine Veröffentlichung sei „Kriegstreiberei“!

Mittlerweile ist die Entfremdung zu russischen Christen größer geworden, auch institutionell. Aus der Union Evangelisch-Lutherischer Kirchen (UELK), dem Zusammenschluss der lutherischen Gemeinden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (bis 2015: ELKRAS), ist die Lutherische Kirche der Ukraine mittlerweile ausgetreten, wie sie es im Januar diesen Jahres bekannt gegeben hat. Der Beschluss wurde von der Synode in Odesa am 22. November 2024 gefasst. Das ist keine Verkapselung, denn 2022 wurde die DELKU Einzelmitglied im Lutherischen Weltbund (LWB), 2023 in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Neben anderen Gründen macht die DELKU für ihren Schritt geltend, dass der Bischofsrat der UELK eine „klare Position

Dietrich Bonhoeffer (Werk und Leben sind für unsere ukrainischen Geschwister von hohem Interesse) wurde für den Widerstand unter anderem deshalb gewonnen, weil er als Kirchenmann Kontakte in die weltweite Ökumene hatte und dorthin wichtige Signale des Widerstands senden konnte. Von vergleichbaren Signalen evangelischer Kirchengemeinden oder Amtsträger aus Russland ist auch meinem Kollegen derzeit nichts bekannt. Das liegt auf derselben, schmerzhaften Linie wie die Risse in zahllosen Familien (oder auch unter Christen): deren russische Hälfte das Leiden ihrer ukrainischen Verwandten schlicht leugnet, stattdessen der (auch bei uns verbreiteten) russischen Propaganda folgt und angesichts der Opfer, die der Krieg von der russischen Bevölkerung verlangt, in eine duldsame Lethargie verfällt. Das einzig Hoffnungsvolle ist dies: Das muss, wie alles in der Welt, nicht so bleiben.
Ich halte deshalb auch den (allerdings sehr losen) Kontakt zu einer russischen Theologin in Moskau, die in Eisenhüttenstadt zur Welt gekommen ist und sich mit Bonhoeffer sowie dem Kirchenkampf beschäftigt – über das Schicksal des 1951 in Moskau ermordeten Pfarrers von Fürstenberg/Oder, Reinhard Gnettner, ist der Kontakt vor wenigen Jahren zustande gekommen. Der Ukraine-Krieg ist kein Thema und wird von mir auch nicht zum Thema gemacht. Der Austausch ‚kocht auf sehr kleiner Flamme’, ‚standby’ gewissermaßen. Aber vielleicht sind es solche Kontakte, die eines Tages noch von großer Bedeutung sein werden. Wir wissen es nicht.
Jetzt aber müssen wir mit dem Schweigen der einen und mit der Not und der Enttäuschung der anderen Glaubensgeschwister umgehen. Das rechtfertigt meines Erachtens auch den Schmerz von Parteilichkeit unter Glaubensgeschwistern – solange diese Parteilichkeit nicht zu einem Dogma wird, sondern sich täglich neu messen lässt, an GOttes Wort und (leider auch, aber wenigstens in dieser Reihenfolge!) an der Realität.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Pfarrer Wolfgang Krautmacher, Evangelische Kirchengemeinde Lieberose und Land Lieberose(DE)/Zhytomyr(UA), März/April 2025
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